Die EU-Kommission hat im Oktober 2019 Titandioxidpulver als potenziell krebserregenden Gefahrstoff eingestuft. Wenn die Verordnung Mitte 2021 in Kraft tritt, gelten Produkte mit diesem Farbpigment als Sondermüll. Für die Industrie hat das weitreichende Folgen. Beim niedersächsischen Öko-Farbenhersteller Kreidezeit sieht man dem gelassen entgegen. Dort wurde von Anfang an auf Titanweiß verzichtet – wenn auch zunächst aus ganz anderen Gründen.
Ende der 80er-Jahre auf dem Wochenmarkt in Hildesheim: Gert Ziesemann wirbt an einem Stand für eine Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft für ökologisch angebautes Gemüse. Sein Rezept für eine Wandfarbe aus Magerquark, Kreide und Borax stellt er eher nebenbei vor. Doch die Marktkunden interessieren sich viel mehr für die „Quarkfarbe“ als fürs Bio-Gemüse und hätten die Zutaten am liebsten gleich dort gekauft. Das war die Geburtsstunde des Wandfarben-Herstellers Kreidezeit Naturfarben.
„Die Resonanz auf unsere Öko-Wandfarbe ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund damaliger Ereignisse“, sagt Michael Meißner, technischer Berater bei Kreidezeit. In der Nordsee kam es 1988 zu einem großen Robbensterben. Verantwortlich dafür war Dünnsäure, damals ein Abfallprodukt bei der Herstellung von Titanweiß, die von Tankern regelmäßig in großen Mengen ins Meer gekippt wurde und das Immunsystem der Tiere schwächte. „Titanweiß geriet in Verruf und Gert Ziesemann suchte nach Lösungen, Wandfarben anders herzustellen“, so Meißner.
Den Anfang machte Kreidezeit mit einer Kaseinfarbe, die aus Kalk, Kreide, Ton- und Marmormehl besteht. Sie ist bis heute im Programm. Aber mittlerweile vertreibt das Unternehmen mit seinen gut 30 Mitarbeitern mehr als 100 Produkte weltweit. Aus dem einstigen Leuchtturm-Projekt ist ein etablierter Öko-Anbieter geworden.
Zwar ist die Herstellung von Titanweiß unter Umwelt-Gesichtspunkten inzwischen unbedenklich. Durch spezielle Recycling-Prozesse muss keine Dünnsäure mehr entsorgt werden. Trotzdem verzichten die niedersächsischen Kalkfarben-Spezialisten weiterhin konsequent auf Titandioxidpulver, so Meißner. Das hat Klimaschutz-Gründe: „Die Herstellung von Titanweiß verbraucht enorm viel Energie, entsprechend entsteht auch CO2 in großen Mengen.“
Titanweiß ist hierzulande das am häufigsten verwendete Weißpigment. Es kommt in fast allen weißen Materialien vor – ob in Kunststoffen, Papier oder Zahnpasta. „Farben mit Titanweiß sind tatsächlich sehr strahlend und können mit synthetischem Aufhellen noch grell-weißer gemacht werden“, beschreibt Meißner die Eigenschaften. Solche Wandfarben lassen eine makellos einheitliche, aber starre weiße Fläche entstehen, die bei allen Lichtverhältnissen gleich aussieht.
Demgegenüber haben Farben aus Kalk und Marmormehlen eine ganz andere Optik. Mit ihnen lassen sich Weißtöne erzielen, die zwar hell, aber nicht grell sind und die das Licht verschiedener Tageszeiten lebendig aufnehmen und widerspiegeln. Dadurch wirken die Wände fürs Auge wohltuend und fügen sich harmonisch in die Wohnungsumgebung ein.
Die Entscheidung der EU-Kommission, Titanweiß als „potenziell krebserregend durch Einatmen“ zu klassifizieren hat für die Industrie weitreichende Folgen: Denn der Rohstoff ist in vielen Produkten kaum zu ersetzen. Ab Mitte nächsten Jahres müssen viele Erzeugnisse deswegen als Sondermüll entsorgt werden. Auch in dieser Hinsicht macht sich der konsequente Verzicht auf Titanweiß für den niedersächsischen Ökofarben-Pionier jetzt bezahlt. Denn die Entsorgung der eigenen Farben und Putze ist kein Problem, sagt Meißner: „Unsere Produkte lassen sich sogar kompostieren.“
Weitere Informationen unter www.kreidezeit.de
Quelle: Kreidezeit Naturfarben GmbH