Ein Atelier im bayrischen Hof. Musterwalzen, wohin das Auge blickt. Tausende mit unterschiedlichsten Formen, Ornamenten und Strukturen. Keine ist wie die andere, jede einzigartig, individuell und irgendwie auf ihre Art wunderschön. An den Wänden hängen zahlreiche gerahmte Werke, die mit verschiedenen Walzen gearbeitet wurden. Sie sehen aus wie Kunstwerke. Auch die Zimmerwände geben verschiedene Muster und Strukturen frei. Hier arbeitet Tobias Ott. Und er hat eine Leidenschaft: Strukturwalzen.
Eine alte Technik lebt
Strukturwalzen haben eine lange, fast vergessene Geschichte und Tradition. 1879 wurde das erste Patent für Walzen eingereicht, doch bereits in 1863 stellte eine Firma bei Leipzig erste Walzen her. Seit dieser Zeit waren sie vor allem in Deutschland und Österreich weit verbreitet. Sie lösten sogenannte Schablonen ab und waren besonders ab den 1920ern und auch noch in den 1950er und 1960er Jahren sehr, sehr beliebt. In der absoluten Blütezeit gab es in etwa 45 bis 50 Firmen, die sich auf die Herstellung der Walzen spezialisiert hatten. Bis in die 1970er Jahre verwendeten Maler Strukturwalzen in Westdeutschland. In Ostdeutschland wurde noch bis in die 1980er Jahre gerne gerollt. Mit Erstarken der Tapetenindustrie wurde die Strukturwalze aber mehr und mehr vom Markt verdrängt. Fortan widmeten sich Maler hauptsächlich dem Kleben bunter Bahnen auf Wände. Die Strukturwalze verlor mehr und mehr an Bedeutung und geriet in den Hintergrund.
Manufaktur statt Massenware
Vor circa zehn Jahren fand Ott auf einem Flohmarkt seine erste Strukturwalze. Der Beginn einer großen Liebe. Er übernahm die Restbestände einer Musterwalzenfirma, kaufte andere Restbestände auf und begann sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Er traf Zeitzeugen ehemaliger Hersteller, sammelte Informationen und Nachlässe ehemaliger Hersteller und kaufte schließlich eine Produktionsmaschine für Walzen aus dem Bestand einer österreichischen Firma. Dies war der Startschuss für eine eigene Musterwalzenproduktion. Seit 2015 produziert Ott im bayrischen Hof in Handarbeit seine eigenen Walzen: „Mein Ziel ist es, mit meinen eigenen Walzen, qualitativ hochwertige Malerwerkzeuge für anspruchsvolle Kunden anzubieten.“ Das ist ihm gelungen. Seine Musterwalzen sind Premiumprodukte, die von Hand hergestellt werden, mit einem stabilen Holzkern ausgestattet sind und keine Nähte auf Walze und Druckauftrag sichtbar werden lassen. Etwa 60 aktuelle Motive hat er in seiner aktuellen Kollektion.
Der Hüter der Walzen
Tobias Ott liebt und lebt für seine Walzen. Der studierte Betriebswirt und Informatiker hat hier seine Lebensaufgabe gefunden: „Ich möchte eine alte Kulturtechnik erhalten, die eigentlich im Malerhandwerk verankert ist“, sagt er und fügt hinzu: „Ich möchte das Alte mit dem Neuen verbinden, das Know-How und die Technik pflegen, um diese historischen Dinge zu bewahren.“ Seine Sammelleidenschaft und Faszination für historische Walzen ist daher ungebrochen. Mittlerweile nennt er Musterwalzen aus über 100 Jahren und in einer Stückzahl von 4.000 sein eigen. Diese hat er gesammelt, restauriert und archiviert. Sein Lager gleicht einer wahren Fundgrube.
Ott verfügt sogar über alte Musteranleitungen, die Hersteller ähnlich einem Tapetenbuch herausgaben. So konnten Maler schon damals ihren Kunden zeigen, welche Muster und Techniken in welcher Form Wände schmücken könnten. Ein historischer Schatz, den er hier in seinen Händen hält.
Kreativitätswerkzeug ohne Grenzen
Ott liebt sie, die unterschiedlichen Muster, die dekorativen Gestaltungsvarianten, die seine Musterwalzen möglich machen. Sie wirken immer anders, je nach Struktur, Farbgebung oder Untergrund. Als Gestaltungselement sind Strukturwalzen vielfältig einsetzbar. So lassen sich nicht nur Wände großflächig oder mit einzelnen Bordüren verschönern. Der Phantasie sind fast keine Grenzen gesetzt. Die Musterwalzen von Ott finden auch zur Gestaltung von Papier und Stoff Verwendung, sei es um individuelles Geschenkpapiere oder Postkarten herzustellen oder um Möbelstücke zu verzieren. Es ist immer individuell, immer besonders, immer faszinierend anders. Mal bunt, mal dominant, mal zurückhaltend, mal wild oder ruhig. Es ist Kunst, was Ott präsentiert.
Renaissance dank Internet
Die Technik mag vielleicht alt sein, doch keineswegs oldfashioned. Ganz im Gegenteil: Im Zuge der Vintage-Bewegung der letzten Jahre und des immer mehr in Mode kommenden „Shabby Schick“ sind es gerade diese besonderen und individuellen Techniken, Ornamente und Muster, die begeistern. Die Strukturwalze erlebt ein regelrechtes Revival. Kein Wunder, kommt das Ergebnis doch einer individuellen Designtapete gleich, ist aber wesentlich kostengünstiger, da der Materialeinsatz fast zu vernachlässigen ist.
Seine Renaissance, das Wiederaufleben dieser fast „vergessenen“ Technik, verdankt die Strukturwalze dem digitalen Zeitalter, vor allem dem Internet. Hier wird schnell bekannt, was vergessen war. Hier „spricht“ sich schnell rum, was gefällt. Seine historischen und aktuellen Musterwalzen bietet Ott über seine Website www.strukturwalzen.de zum Verkauf, aber auch als Leihgabe an. Seine Kunden reichen mittlerweile vom Heimwerker über den Maler bis hin zum Architekten. Wer bestellt, erhält ein Päckchen mit entsprechender Anleitung und kann loslegen. Zudem erklärt Ott in anschaulichen Youtube-Videos die Anwendung. Die begeisterten Kunden danken es ihm mit selbst hergestellten Dankesschreiben, natürlich gerollt mit Ottschen Strukturwalzen.