Dr. Gertrud R. Traud weiß, wovon sie redet. Die ausgewiesene Finanzexpertin ist Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba) in Frankfurt am Main. Ihre Analysen sind gefragt in der Branche und in den Medien. Sie versteht es, komplexe Zusammenhänge einfach und verständlich darzustellen. Malerblog.net sprach mit Frau Dr. Traud über die Gefahren des Brexit und die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB).
Frau Dr. Traud, das Exit-Votum der Briten hat uns alle überrascht. Wie gefährlich ist der Brexit für die deutsche Wirtschaft?
Der Brexit führt zu einem Wachstumseinbruch in Großbritannien, von dem auch Deutschland und die Eurozone betroffen sein werden. Immerhin rund 8 % der deutschen Exporte gehen in das Vereinigte Königreich. Der Außenhandelssaldo war 2015 mit 51 Mrd. Euro der zweitgrößte nach den USA. Unsicherheit und geringere Importe des baldigen „Nichtmitglieds“ treffen den deutschen Außenhandel, so dass das Wachstum in Deutschland bzw. in der Eurozone 2016 um 0,1 Prozentpunkte und 2017 um mindestens 0,2 Prozentpunkte geringer ausfallen wird. Dies zeigt, dass sich die negativen Effekte in Grenzen halten. Denn die Eurozone befindet sich derzeit in einer konjunkturellen Erholungsphase, die auch durch den Brexit nicht abbrechen wird. Das deutsche Wachstum wird 2016 mit 1,6 Prozent und 2017 mit 1,4 Prozent weiterhin stark genug sein, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Wo sehen Sie die größten Gefahren, die der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union hervorrufen könnte?
Sobald die Briten den Antrag zum Austritt bei der EU eingereicht haben, beginnt der bis zu zwei Jahre dauernde Scheidungsprozess. Wir gehen davon aus, dass es letztlich zu einer einvernehmlichen Einigung kommt. Dann behält Großbritannien den weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt bei Waren. Bei Dienstleistungen, insbesondere im Finanzsektor, gibt es einige Einschränkungen. Die langfristigen wirtschaftlichen Konsequenzen halten sich in Grenzen, zumal das Land nicht wirklich unabhängig von der EU ist, da viele Regeln weiterhin aus Brüssel kommen. Das größte Risiko ist, dass die Briten im „Scheidungsvertrag“ zu Lasten der EU deutliche Vorteile heraushandeln, sich also „Rosinen herauspicken“ können. Großbritannien behält den weitgehenden Zugang zum EU-Binnenmarkt und kann dennoch Sonderregeln u.a. für die Migration aushandeln. Dank einer lockereren Regulierung als in der EU gewinnt der Standort Großbritannien, nicht zuletzt der Finanzplatz London, an Attraktivität und zieht frisches Kapital an. Insgesamt profitiert das Land vom Austritt, während die EU die Kosten trägt. Dies führt zu Nachahmern. Die politischen Spannungen nehmen zu, der Bestand der Währungsunion wird zunehmend hinterfragt. Dann wäre der Brexit der Anfang vom Ende der EU.
In Deutschland gibt es seit Jahren faktisch keine Sparzinsen mehr. Führt die dauerhafte Null-Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht zu einer schleichenden Verunsicherung der deutschen Verbraucher und damit auch zu einem Misstrauen gegenüber EU-Institutionen? Wie sehen Sie die Zinspolitik der EZB?
Die EZB operiert im geldpolitischen Grenzbereich. Die Kombination aus negativen Zinsen auf Einlagen der Banken und dem Ankauf von Wertpapieren entbehrt jeglicher historischer Erfahrung. Die Nebenwirkungen sind jetzt schon sichtbar. Es kommt zu Verzerrungen an den Kapitalmärkten und Umverteilungsprozessen vom Sparer zum Schuldner. Zwar profitieren die Staaten vom Rückgang der Zinsen. Anreize zu Reformen und Haushaltskonsolidierung gehen aber verloren. Bei länderspezifischen Problemen wird immer mehr der Ruf nach EU-Institutionen laut, während die Eigenverantwortung zunehmend zurückgedrängt wird. Aber genau dies ist das, was Europa jetzt braucht. Die EU sollte Lehren aus dem Brexit ziehen und die Grundelemente Europas, nämlich Vielfalt und Subsidiarität wieder stärken. Dann könnte auch die Europaverdrossenheit wieder eingedämmt werden. Für die politische Integration Europas bieten sich Bereiche an, bei denen Vielfalt keine Vorteile bringt. Der nächste Schritt der europäischen Integration sollte daher in der Zentralisierung der Außen- und Verteidigungspolitik und nicht in der Fiskalpolitik stattfinden.
Frau Dr. Traud, vielen Dank für das Gespräch.