Die Versorgungssituation bei Titandioxid ist angespannt. Die Farbenindustrie leidet unter Lieferengpässen und steigenden Rohstoffpreisen. Jetzt erreichte die Farbenindustrie noch eine weitere Hiobsbotschaft. Der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) der Europäischen Chemikalienbehörde ECHA hat in der vergangenen Woche empfohlen, das Weißpigment Titandioxid als einen Stoff „mit Verdacht auf krebserzeugende Wirkung beim Menschen“ durch Einatmen einzustufen. Über die Auswirkungen einer solchen Einstufung auf die Farbenindustrie und die Maler- und Lackiererbranche sprach Malerblog.net mit dem Hauptgeschäftsführer des Verbandes der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VdL), Herrn Dr. Martin Engelmann.
Herr Dr. Engelmann, die deutsche Farbenindustrie ist mit einem Anteil von 57 Prozent der Hauptabnehmer von Titandioxid. In 95 Prozent der RAL-Farbtöne befindet sich dieses Weißpigment. Was würde die von der ECHA empfohlene Einstufung als karzinogen für die Farbenindustrie in Deutschland bedeuten?
Titandioxid ist sozusagen ein Allrounder und wird als Rohstoff in fast allen Industriebereichen genutzt. Sollte die Empfehlung des Ausschusses für Risikobewertung (RAC) der ECHA, Titandioxid als Krebsverdachtsstoff (Kategorie 2) „durch Einatmen“ einzustufen, tatsächlich umgesetzt werden, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf viele Industriebereiche, auch auf die Farben- und Lackindustrie. Wir befürchten insbesondere eine erhebliche Verunsicherung der Verbraucher, da Farben und Lacke als „vermutlich krebserzeugend“ gekennzeichnet werden müssten, obwohl das Titandioxid in den Farben in dem Bindemittel gebunden ist und gar nicht eingeatmet werden kann. Außerdem würde es keinen „Blaue Engel“ mehr für Farben und Lacke geben. Eine noch völlig unterschätzte Auswirkung findet sich im Baurecht: Eine Einstufung als krebserzeugend hätte zur Folge, dass Bauabfälle mit mehr als 1% Titandioxid, also z. B. Farbeimer, Tapeten etc., als „gefährlicher Abfall“, also Sondermüll, entsorgt werden müssten. Allein die Kosten für die Entsorgung der gewerblich genutzten Gebinde (z. B. von Malern) würden von heute 10 Millionen Euro auf 200 Millionen Euro pro Jahr steigen. Damit nicht genug: Mit der Einstufung von Titandioxid würde zudem ein Präzedenzfall für andere nicht-lösliche (inerte) Stäube geschaffen. Es droht ein Domino-Effekt für viele weitere Pigmente und Füllstoffe.
Dürften bei einer Einstufung von Titandioxid als krebserzeugend überhaupt noch titandioxidhaltige Farben und Lacke an Maler- und Lackierbetriebe und private Endverbraucher verkauft werden?
Ursprünglich hatte die französische Behörde für Lebensmittelsicherheit, Umwelt- und Arbeitsschutz (ANSES) eine Einstufung von Titandioxid als „wahrscheinlich krebserzeugend“ (Kategorie 1B) vorgeschlagen. Danach dürften Farben und Lacke mit Titandioxid nicht mehr an private Endverbraucher in Baumärkten oder im Fachhandel verkauft werden, obwohl – wie gesagt – das Titandioxid in Farben und Lacken gar nicht eingeatmet werden kann. Betroffen wäre der gesamt DIY-Markt für Farben mit einem Jahresumsatz von knapp 790 Millionen Euro.
Im Falle einer Einstufung in Kategorie 2 – wie jetzt vom RAC empfohlen – wäre zwar der Verkauf von Farben und Lacken mit Titandioxid an private Endkunden weiterhin möglich, allerdings befürchten wir eine erhebliche Verunsicherung der Verbraucher durch den Gefahrenhinweis. Diese Verunsicherung dürfte im Übrigen auch der Maler zu spüren bekommen, der zum Beispiel das Kinderzimmer neu streicht.
Warum wird Titandioxid überhaupt in einem solchen Ausmaß in Farben und Lacke verwendet? Gibt es keine Alternativen zu diesem Stoff?
Titandioxid ist das Weißpigment mit dem höchsten Licht-Streuvermögen und daher mit der höchsten Deckkraft. Außerdem ist es sehr witterungsbeständig und thermisch stabil. Ohne Titandioxid lassen sich Farben einfach nicht in vergleichbarer Qualität herstellen. Außerdem ist Titandioxid in Farben und Lacken nachweislich sicher für den Menschen und die Umwelt.
Wie sieht der weitere Verfahrensprozess auf europäischer Ebene aus?
Der politische Bewertungsprozess hat gerade erst angefangen. Die RAC-Empfehlung wird während des Sommers an die EU-Kommission gegeben, die dann einen Vorschlag für die Entscheidung im REACH-Regelungsausschuss erarbeitet. Wir rechnen mit einer Entscheidung im Frühjahr nächsten Jahres.
Vielen Dank.