Ist ein Arbeitnehmer für einen Job geeignet? Um dies herauszufinden, darf zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses eine Probezeit vereinbart werden. In Deutschland darf eine Probezeit nicht länger als sechs Monate dauern. In dieser Zeit kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer unter erleichterten Bedingungen kündigen, das heißt nicht nur die Kündigungsfristen sind verkürzt. Während der Probezeit darf grundsätzlich auch ohne Grund ordentlich gekündigt werden. Diese Grundregel gilt auch für schwerbehinderte Arbeitnehmer. Sie haben hier keine Sonderrechte. Lediglich die Anhörung des Schwerbehindertenvertretung sowie des Betriebsrates, falls betrieblich vorhanden, ist bei einer Probezeitkündigung zu beachten.
Ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnte diese in Deutschland bereits seit Jahrzehnten bewährten Grundregeln jetzt ändern und dazu führen, dass künftig ein anderer Maßstab bei der Probezeit-Kündigung von Schwerbehinderten als bei Beschäftigten ohne Behinderung anzulegen ist.
Der EuGH hatte über einen Fall zu entscheiden, der sich in Belgien zugetragen hat. Ein Mitarbeiter der belgischen Eisenbahngesellschaft hatte sich gegen seine Entlassung gewehrt. Er war als Gleisarbeiter eingestellt worden. Nach Beginn des Arbeitsverhältnisses erkrankte er und bekam einen Herzschrittmacher. Dieser reagierte jedoch sensibel auf die elektromagnetischen Felder bei den Gleisanlagen, so dass er seine Tätigkeit als Gleisarbeiter nicht mehr ausüben konnte. Zudem wurde ihm eine Schwerbehinderung zuerkannt. Der Arbeitgeber setzte ihn zunächst im Lager ein, kündigte das Arbeitsverhältnis aber noch in der Probezeit. Dagegen setzte sich der Mitarbeiter zur Wehr.
Die Richter des EuGH bezogen in ihrem Urteil vom 10. Februar 2022 (Az. C-485/20) klar Position zugunsten des (plötzlich) Schwerbehinderten. Der Leitsatz lautet: Ein Arbeitnehmer mit Behinderung – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der für ungeeignet erklärt wird, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, kann einen Anspruch auf Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz haben, für den er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist. Durch die Maßnahme darf der Arbeitgeber aber nicht unverhältnismäßig belastet werden.
Vor Ausspruch einer Kündigung eines Schwerbehinderten – auch in der Probezeit – hat der Arbeitgeber, dem EuGH-Urteil zufolge, also zu prüfen, ob nicht vorrangig eine Versetzung auf eine andere freie Stelle im Unternehmen möglich ist. Für Arbeitgeber bedeutet dies gegenüber der aktuellen Rechtslage ein Mehr an Prüfungs- und Organisationsaufwand sowie gegebenenfalls Argumentations- und Rechtfertigungsaufwand.
Wie genau diese unionsrechtliche Entscheidung Eingang in die deutsche Rechtsprechung finden wird, wird sich zeigen. Der erste Fall dürfte sicher nicht lange auf sich warten lassen.